Editorial
Auf der Suche nach der verlorenen Sozialdemokratie? Ganz so schlimm ist es hoffentlich nicht. Total verloren und verschwunden, das ist die SPD doch noch nicht. Sie wird sogar zur Mehrheitsbildung wieder gebraucht. Aber die Angst, dass sie mit der Union Angela Merkels von Mal zu Mal stärker in den Sog ihres Untergangs gerät, sitzt tief – und ist angesichts der Marginalisierung von Sozialdemokratien in anderen Ländern Europas alles andere als irrational. Auch wenn sich die SPD – „ergebnisoffen“ (so der Berliner Parteitag 7.-9. 12. 2017) - staatspolitischer Verantwortung nicht entziehen will, auch wenn sie tatsächlich wieder einmal wichtige Essentials ihres Programms durchzusetzen vermag, weiß sie doch: Nach der tiefen Zäsur der Bundestagswahl 2017 kann es kein einfaches Weitermachen des „Business as usual“ mehr geben!
Das schlechteste Ergebnis der SPD seit 1945 (20,5%), mit der rechten AfD fast schon im Nacken (12,6%) und in Ostdeutschland gar eine AfD mit 22,5% deutlich vor der SPD (14,3%), die SPD dort nur auf dem vierten Platz: welch eine Wahlkatastrophe! Bereits jetzt ist der SPD ihr Volksparteienstatus in vielen Regionen verloren gegangen. Werden die demokratischen Volksparteien auch in Deutschland durch einen neuen Typus populistischer „Bewegungsparteien“ verdrängt: durch die Rechtsaußen-AfD, aber auch die neue Lindner-FDP, beides eher seilschaftsorientierte Protestparteien?
Was kann getan werden, dass sich der historische Niedergang der SPD nicht fortsetzt? Die Verantwortung für die Demokratie bleibt eine doppelte: das Land nicht unregierbar zurückzulassen, aber auch so zu agieren, dass die SPD - und nicht die postdemokratische Antipolitik - mehrheitsfähig ist.
Bekanntlich ist Auf der Suche nach der verlorenen Zeit der große, schier endlose lebensgeschichtliche Roman des französischen Romanciers Marcel Proust (1871-1922). Der Ich-Erzähler widmet sich seiner allegorischen Suche nach der Wahrheit und bemerkt, dass die Vergangenheit einzig in seiner Erinnerung existiert. Ist die Zeit vergeudet und unwiederbringlich verloren? Bleibt es nur, sie in der Erinnerung zu konservieren? Oder kann sie dadurch, dass sie aufgeschrieben wird, wieder neue Imagination oder gar Zukunftsbilder hervorrufen? - Assoziationen hin zum Schwerpunkt dieses Heftes mit dem Titel Auf der Suche nach der verlorenen Sozialdemokratie sind da nicht zufällig.
Auch wenn ihr aktives Personal mittlerweile überwiegend zur mobilen Elite, zu den Gewinnern der Globalisierung gehört, muss die SPD Themen wie den Anstieg der Kinderarmut, den Höchststand an Leiharbeit, die jährlichen Einkommensverluste der unteren 40%, den Pflegenotstand, die Wohnungsnot, sinkende Renten usw. in den Mittelpunkt ihrer Politik stellen, sie darf sich nicht nur an den Aufsteigern einer imaginären „Mitte“ orientieren, sondern muss sich gerade um die prekär Lebenden, die Nichtmobilen, die wenig Gebildeten und diejenigen, die sich im Stich gelassen fühlen, kümmern. Globalisierung, digitaler Kapitalismus und die kulturelle Wende ins Singuläre erfordern aufs Neue die Parteinahme für Arbeit, Zusammenhalt, Sicherheit und Gleichheit (was ohne aktualisierte Kapitalismuskritik kaum gehen wird).
Die SPD braucht trotz allem Alltagsstresses Zeit und Muße zur tiefgreifenden Aufarbeitung und längeren Selbstreflexion. Dabei können ihr nahestehende, wie wohl unabhängige Orte wissenschaftlicher, publizistischer und politischer Analysen (wie die perspektivends!) helfen.
Sehen wir nicht in ganz Europa einen strukturell-epochalen Megatrend, der überall zum Schrumpfen der Sozialdemokratien, dem Ende der Volksparteien, wie wir sie kannten, führt (so Wolfgang Merkel)? Oder verlor die SPD 2017 selbstverschuldet durch eigene Fehler, hätte also mit einem anderen personellen und inhaltlichen Wahlkampf die Bundestagswahl durchaus gewinnen können (so Olaf Scholz)? Wieweit gingen der SPD Programmatik, Orientierung, Erzählung und Identität verloren: in der öffentlichen Wahlkampfkommunikation, aber darüber hinaus sogar der innere Kompass? Wieweit hat dies gar mit der gewandelten sozialen Logik in der Spätmoderne zu tun, mit der „Gesellschaft der Singularitäten“ (so Andreas Reckwitz)? Wie weit muss (Grundsatz-)Programmatik in globalisierten, individualisierten und digitalisierten Zeiten neu erarbeitet werden? Oder würde nicht gerade die historische Selbstvergewisserung, also die Erinnerung an die programmatische Substanz und eigene Vergangenheit, gewissermaßen im Proustschen Sinne, weiterhelfen? Interessant auch, dass uns in der Auseinandersetzung mit Fritz Sternberg (und dahinter mit Karl Marx) Fragestellungen begegnen, die in der Wachstums- und Wohlstandsepoche und den neoliberalen Jahren alt aussahen, die aber jetzt im Kontext des digitalen Kapitalismus erneut diskutiert werden.
Die Herausgeberin der perspektivends, unsere Helga Grebing, wichtigste Historikerin der deutschen Arbeiterbewegung, ist verstorben. Bis zuletzt war sie wissenschaftlich und politisch aktiv, die perspektivends 1/17 enthielten einen ihrer letzten Texte (zum Umbruch 1918/19). Wir ehren und würdigen sie in diesem Heft mit einem zweiten Schwerpunkt.
Wieder enthält dieses Heft einen umfangreichen Teil junge perspektiven, diesmal von Hendrik Küpper betreut. Dort wird vieles erfrischend quergedacht: Auch, was Widerspruch herausfordert, könnte neue Debatten links der Mitte befördern!
Neu in den Vorstand der HDS e.V. wurden gewählt: Klaus Kost, Hendrik Küpper, Ralph Ludwig, Lars Rensmann, Hans-Joachim Schabedoth, Wolfgang Schroeder und Heinrich Tiemann. Zudem blieben Nils Diederich, Klaus Faber, Horst Heimann, Kira Ludwig, Andreas M. Müggenburg, Lisa Price, Sibylle Reinhardt, Klaus-Jürgen Scherer Vorstandsmitglieder. Ein um Hermann Adam und Richard Saage erweiterter Herausgeberkreis, ein neu eingerichteter Redaktionsbeirat, dem auch der HDS-Vorstand angehört - für eine solche klare Strukturierung unserer Visitenkarte hatte auch noch Helga Grebing geworben.
Für die Redaktion Kira Ludwig, Klaus-Jürgen Scherer